Leseprobe

Der Prolog aus dem aktuellen Roman »Leben ist ein Blues« von Uwe Prink


Der Schrei sitzt tief in mir drin. Er schlummert nur, er schläft nie fest, weil er immer hervorbrechen will.
Alle Menschen haben den Schrei in sich. Viele binden sich an die Weltreligionen, um den Schrei zu kanalisieren. Andere betonieren ihn ein, indem sie sich mit Unwichtigem ablenken. Sie haben Angst vor dem Schrei. Diese Leute werden blasse Bürokraten, Funktionsträger oder aber Massenmörder. Denn wenn der Schrei zu lange in der Seele eingesperrt bleibt, bahnt er sich in seltenen Fällen den Weg nach draußen und bricht als wildes Tier hervor, das seine Wut über das Eingesperrtsein an den Mitmenschen seines Kerkermeisters abreagiert.

Meine Stimme legt sich auf die Noten des Gitarrensolos und scattet einige Laute mit dem Klang der Gitarre. In diesen Momenten bin ich unverrückbar mit dem Gitarristen verbunden. Es ist ein spiritueller Vorgang. Es gibt Musiktheoretiker, die versuchen, das Phänomen zu erklären. Sie aber kratzen mit ihren Theorien nur an der Oberfläche. Zum Urgrund hervorzudringen ist eine Sache des Gefühls. Eines Gefühls, dass das ganze Dasein beeinflussen kann. Ich bin dankbar für die Gabe, zeitweilig den Urgrund in seiner unendlichen Weite erspüren zu dürfen. Der Schrei, der dort schlummert, kommt bei mir als Gesang hervor. Ein Gesang, der die tiefe Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit ausdrückt. Alle Menschen, die sich in ihrer Umgebung nicht zu Hause fühlen, kennen diese Sehnsucht, die die Meisten aber nicht ausdrücken können, weil sie in ihren Erziehungskorsetts stecken. Die Künstler haben diese Fähigkeit. Sie sind privilegiert, aber zahlen auch ihren Preis dafür. Die Schattenseite, so empfinde ich es zumindest, sind die Tage, Wochen oder Monate, wenn meine Stirn von depressiven Gedanken umwölkt sind.

Dann ist es das beste Heilmittel, den Blues zu singen, damit der Schrei die Wolken vertreibt. Man sucht sich den Blues nicht aus. Der Blues sucht sich den Menschen aus. Diejenigen, die den Blues spielen und singen können, sind auf dem lebendigen Weg zu Heilung zum Ursprung. Im Blues gibt es Platz für das Improvisieren. Man kann seine Stimmungen im Blues ausdrücken. Er ist nicht so starr arrangiert wie die Popmusik. Die meisten Rockbands, die ich liebe, sind bluesorientiert. Diese Musik drückt die Höhen und die Tiefen des Lebens aus und geht darüber hinaus ins Spirituelle. Der Blues ist für mich nicht traurig, wie viele denken, er ist manchmal melancholisch. Melancholie ist für mich die schöne Form der Traurigkeit, die an die Sehnsucht erinnert zurückzukehren. Auch die menschliche Liebe mit ihren Leidenschaften und Obsessionen ist oft das Thema dieser Musik.



»Is it you again outside,
Just banging on the front door?
You say you had enough,
Now you're coming back for more,
But that's alright.
I said that that's alright.«
(ZZ Top, A Fool for Your Stockings)